Читающим по-немецки

В рождественском книжном приложении газеты «DIE ZEIT» рецензия Ольги Мартыновой на новый перевод освенцимских рассказов Тадеуша Боровского. Поскольку книжные приложения «DIE ZEIT» ставятся в сеть не полностью, ниже приводится текст.
Vorstellung des Unvorstellbaren

Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Schöffling & Co, Frankfurt am Main, 2006, 422 S., 24,90 €

Wenn von der europäischen Zivilisation nur dieses Buch erhalten geblieben wäre, was würde dann ein Nachmensch über uns denken? Wohl kaum, dass wir einer normalen Zivilisation angehörten, der plötzlich etwas Schlimmes passierte. Das Erschreckende an diesem Buch: Auschwitz erscheint als natürliche Fortsetzung unseres Pragmatismus und Technizismus, als eine bis ins Absurde verstiegene Normalität. Vielleicht hätte es diese Zivilisation auch verdient, dass von ihr nur dieses Buch erhalten geblieben wäre.

Verfasser des Buches ist der 1922 in der Ukraine geborene Pole Tadeusz Borowski. In den ersten Kriegsjahren studierte er an der Warschauer Untergrunduniversität, wurde 1943 verhaftet und nach Auschwitz gebracht. Er überlebte und schrieb eines der erschütterndsten Zeugnisse – vielleicht das nüchternste, das unheimlichste und das objektivste – über Auschwitz. Von der westlichen Kultur enttäuscht, trat er nach dem Krieg der kommunistischen Partei bei, was zu weiteren Enttäuschungen führte. 1951 nahm er sich – 28jährig – das Leben. Er wurde bei aufgedrehtem Gashahn tot in seiner Wohnung gefunden. Die Vergasung war vollendet.

Sein Werk gibt eine taktile Vorstellung des Unvorstellbaren. Mit unerträglicher Genauigkeit beschreibt er den Lageralltag. Häftlinge säubern die Waggons, nachdem die angekommenen Menschen in die Gaskammer getrieben worden sind, „in den Ecken, zwischen Kot und verlorenen Uhren, liegen erstickte, totgetretene Säuglinge, nackte Monstren mit riesigen Köpfen und aufgetriebenen Bäuchen. Wir tragen sie hinaus wie Hühner, zwei in jeder Hand“. Von dem Gepäck der Vergasten wird das Lager ein paar Tage lang leben, man wird sagen: „Es war ein guter, reicher Transport“. Die am Leben Gebliebenen kämpfen nicht nur ums Überleben; für ein Stück Brot kann man sich ein Mädchen kaufen, oder man kann Fußball spielen: „zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast“. Die eigentlichen Täter erscheinen selten; die Lagerwelt ist so organisiert, dass alles von den Opfern erledigt wird, die so zu Mittätern werden. Häftlinge beginnen gegenüber ihren Mitgefangenen, denen es noch miserabler geht als ihnen selbst, ein Hassgefühl zu hegen, „das Einfachste ist, seine Wut am Schwächeren abzuladen“.

Borowski war ein geborener Dichter. Seine detailreiche Prosa schockt mehr als die sachlichen Aussagen der Augenzeugen. Das provozierte den Vorwurf des Zynismus, gegen welchen Borowski sich wehren musste: Er habe „keine menschlichen Gehirne gegessen, keine Kinder ermordet“, ist „mit den Deutschen“ nicht „in die Oper“ gegangen usw. Sogar Czesław Miłosz bezichtigte Borowski des kalten sarkastischen Menschenhasses und eines Überlegenheitsgefühls gegenüber den Ermordeten. In der Aufregung seiner intellektuellen Jagd nach den vom Kommunismus „verführten“ Künstlern machte er keinen Unterschied zwischen Borowski und seinen Figuren.

In seinen späteren Erzählungen versuchte Borowski über die Nachkriegswelt zu schreiben. Seine Protagonisten sehen die abgebrannten Häuser, in ihren erotischen Träumen werden sie vom „nassen fetten Gestank brennender Menschen“ gestört. Borowski wird sein Thema nicht los und bemerkt: „Ein junger Dichter der symbolistisch-realistischen Schule sagt über mich mit spöttischer Geringschätzung, ich hätte einen Lagerkomplex“.

Vielleicht häuft sich das Unverständniss um Borowskis Werk, weil die Realität seiner Bücher grundsätzlich unbegreiflich ist. Nach der schaudernden Lektüre wird all das wieder unvorstellbar. Aber vielleicht – und das wäre Sinn und Zweck der Lektüre – bleibt in jedem Leser ein winziger Teil dieses „Lagerkomplexes“. Nichts ist wieder gut zu machen. Das einzige, was zu machen ist – nicht zu vergessen.

Olga Martynova

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