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В газете «DIE ZEIT» (№ 13, март 2007 г., литературное приложение к Лейпцигской книжной ярмарке) рецензия Ольги Мартыновой на книгу Анны Радловой.
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Kühnheit und Exstase
Eine besondere Entdeckung:
Die russische Dichterin Anna Radlova

Anna Radlowa: Der Flügelgast. Gedichte. Das Schiff der Gottesmutter. Drama. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Pforte Verlag, S. 181, € 16, —

Anna Radlowa ist mit Sicherheit ein völlig neuer Name für den deutschen Leser. Eine bemerkenswerte Lyrikerin, war sie zudem eine der verblüffendsten Schönheiten der Petersburger Moderne. Vor hundert Jahren sah vieles in Russland nicht anders aus als im übrigen Europa: Das muntere 19. Jahrhundert ging und hinterließ seinen mystisch gestimmten Nachkömmlingen ein solides Wohlstandsniveau. Die Künste blühten auf. Die allerschönsten Frauen genossen nicht nur die Bewunderung der Dichter, sie wurden auch zu selbstbewussten Künstlerinnen. – 1914 brach diese Welt zusammen. Noch dazu erlitt Russland 1917 die Oktoberrevolution.

Anfang der 20er Jahre war das literarische Petrograd (so der während des Ersten Weltkrieges entdeutschte Name St. Petersburgs) eine seltsame Erscheinung: Dichter litten Hunger, hatten kein Brennholz für ihre Wohnungen, manchmal auch keine Wohnungen. Trotz allem versuchten sie, die Formen des literarischen Alltags, wie sie sich in den 1910er Jahren ausgeprägt hatten, fortzusetzen: Lesungen zu organisieren, Zeitschriften zu verlegen, Salons zu unterhalten –, bis sie von ihren proletarischen oder angepassten Kollegen endgültig in eine mit dem späteren Underground vergleichbare Subkultur verdrängt wurden.

Anna Radlowas kurzer Erfolg fiel auf diese karge Zeit. Michail Kusmin, ein kapriziöser Ästhet und ein wunderbarer Dichter des „Silbernen Zeitalters“, wie man die russische Moderne zu nennen pflegt, versuchte Radlowa der bereits vor dem Ersten Weltkrieg landesberühmt gewordenen Anna Achmatova gegenüberzustellen. Allerdings wurden die ersten Poeten nun durch die Obrigkeit bestimmt, und nicht durch literarische Intrigen.

Im Unterschied zu Achmatova, deren Liebesgedichte mit ihren pointierten Sujets und knapper Sprache kleinen Novellen ähneln, findet Radlowa ihre Themen und Formen in ekstatischen Sektantenliedern. Sie entnimmt der Volkspoesie kühne Rhythmen, die den Verstechniken des späten 20. Jahrhunderts zuvorkommen. Von besonderem Interesse ist ihr historisches Versdrama „Das Schiff der Gottesmutter“ über eine charismatische Anführerin der Chlysty-Sekte, Akulina Ivanovna. Russische Sektanten legitimierten, ebenso wie Räuber und politische Abenteurer, ihre Ansprüche mit den Namen von Mitgliedern der Zarenfamilie. So galt Akulina Ivanovna als die Tochter Peters des Großen, Jelisaweta. In der ersten Szene von Radlovas Drama soll Jelisaweta infolge einer Palastrevolution den Zarenthron besteigen. Doch kann sie einem höheren Ruf nicht widerstehen und begibt sich auf die Suche nach dem „Gottesschiff“, wie sich Chlysten-Gemeinden bezeichneten. Ihre Zofe, zu ihrem Ebenbild geworden, regiert an ihrer Stelle. Nur Graf Rasumowsky, ihr berühmter Favorit, erkennt die Doppelgängerin und folgt seiner Geliebten. Als diese sich weigert, die Chlysten zu verlassen, liefert er sie der falschen Zarin aus. Die wirkliche Tochter des großen Zaren wird hingerichtet.

Die historische Akulina Ivanovna segnete Kondratij Seliwanow, den Gründer der rätselhaftesten aller russischen Sekten, der Kastraten. Die ritualisierte Verstümmelung und die Tatsache, dass einige sehr einflussreiche Persönlichkeiten, darunter Zar Alexander I., diese Sekte unter Schutz nahmen, sorgte für Schauer und anhaltende Gerüchte. Radlowa schrieb darüber einen Roman, der leider noch nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Das Interesse an derartigen Überlieferungen ist für die russische Moderne überaus typisch (Andrej Belyj, Sologub und v. a.). In vielerlei Hinsicht war das „Silberne Zeitalter“ eine fortsetzende Entwicklung der zu kurz gekommenen russischen Romantik des 19. Jahrhunderts, die solche Legenden noch nicht zur Verfügung hatte und sich überwiegend der westeuropäischen Mystik bediente. Das ist übrigens ein Muster russischer Literaturgeschichte: Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde die zu kurz gekommene russische Moderne „mit neuen Mitteln“ fortgesetzt.

In den 30er Jahren mussten sich viele Dichter einen literarischen Nebenberuf suchen, schlicht um zu überleben. Anna Radlowa übersetzte Theaterstücke für die Inszenierungen ihres Mannes Sergej Radlows, der ein berühmter Regisseur war. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs blieb sein Theater zunächst im belagerten Leningrad (1924 war die Stadt zum zweiten Mal umbenannt worden). 1942 konnte das Ensemble jedoch in den Nordkaukasus evakuiert werden, der kurz darauf von den Deutschen besetzt wurde. Im Rahmen propagandistischer Veranstaltungen der Nationalsozialisten wurden die Schauspieler gezwungen, zunächst in Berlin, dann in Südfrankreich zu spielen. Nach dem Krieg bemühten sich sowjetische Gesandte, darunter namhafte Autoren, darum, die nunmehr in Frankreich lebenden Emigranten zur Rückkehr in die Sowjetunion zu bewegen. In der Tat gingen einige von ihnen, über das Ende des Krieges und den Sieg Russlands euphorisch gestimmt, zurück. Viele wurden als Verräter verurteilt, auch die Radlows wurden verhaftet.

Anna Radlowa starb 1949 im Lager. Erst 1997 erschien in Russland ihre Werkausgabe. Es ist dem Pforte Verlag und Alexander Nitzberg hoch anzurechnen, dass einige ihrer Gedichte und ein Drama nun auf Deutsch vorliegen. 2004 gab Nitzberg im selben Verlag einen anderen Dichter der Russischen Moderne, Maximilian Woloschin, heraus. Man will auf die Fortsetzung dieser Reihe hoffen – die Wunschliste wäre lang.

Olga Martynova

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